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massé

 

Viele bezeichnen sie als überrumpelnd, platzeinnehmend, unpersönlich, grob, manchmal gar böse, und natürlich: gewichtig.

 

In der Öffentlichkeit vertritt sie gerne eine Meinung, der man sich nicht zu widersetzen wagt. Im allgemeinen kommt man schlecht gegen sie an. Vor allem im Zug, im Parlament oder im Weihnachtsschlussverkauf.

 

Beliebt ist sie nicht, die Masse.

 

Sie liebt es in der Gerüchteküche zu kochen. Dabei nimmt sie regelrecht und stetig zu. Keine Diät habe je gegriffen, nichts habe man unversucht gelassen. Von „Friss die Hälfte“ bis „futtere nur noch Grün“, alles lies sie immer nur fetter werden.

 

Ihre Hobbys sind Lager, Wandern und natürlich Lärmen. Das kollektive Aufstacheln und die Manipulation sind Talente von ihr. Die Produktion nennt sie ihr Verdienst. Hysterie und Panik sind ihr ebenfalls nicht fremd. Man weiss, dass sie ab und an auch mordet, sogar im grossen Stil.

 

Nanana. Das klingt jetzt alles sehr schlimm und grauenhaft. Sie kann sich auch menschlich geben, wenn sie will. Die gute Masse tröstet, gibt Halt, Schutz und Geborgenheit.

Was man vielleicht nicht zu denken wagt, aber trotzdem der Wahrheit entspricht: Sie fühlt sich manchmal sehr alleine!

 

Sie jammert und kreischt.

 

Der Doktor sagt, es sei der Einzelne in ihr. Der bereite Bauchschmerzen. Vielleicht sogar ein Magengeschwür, denn der Bauch sei ausserordentlich gewachsen. Solche Dellen habe er noch nie gesehen.

 

Auf Lateinisch: INDIVIDUUM MORBIDIS

 

Es sei wirklich eine fürchterliche Krankheit. Sie infiziere, nein personifiziere. Bekanntes wie auch Fremdes werden dabei vermischt, gar Anonymes aufgehoben!

 

Der Doktor seufzt: „Fräulein Masse, die Individualität ist für Sie tödlich. Ich rate Ihnen: Suchen Sie sich Verbündete, denn die Einsamkeit bekommt ihnen schlecht. Sie schürt nur unnötiges Keimen von revolutionären Ideen.“

 

Das zu hören war nicht leicht für sie. Der Weisung folgend sucht sie nun Kumpanen. Aus der selben Liga wie sie zu sagen pflegt.

 

Wer ist ihr ähnlich? Wer verbrüdert sich mit ihr? Schwitzend zwängt sie sich durch leere Gassen, eilig, auf der Suche nach weiteren Genossen.

Die Zeit wird knapp. Das Ührlein tickt. Der Bauch wird dicker. Es gedeiht in ihr.

 

 

„Einzig sein.“

„Andersartigkeit“

„abheben“

 

 

Sie findet niemanden. Will sie niemand finden? Es kreist, es dreht. Die Gedanken sind.

Schneller, schneller, ein Karussell.

 

Und dann ein Schlag.

 

Grosse Aufregung im ganzen Lande. In den Medien ist zu lesen: Das Ding sei um Mitternacht geboren und habe schon reichlich an Gewicht zugelegt, sei munter und wohl auf. Doch Schlimmes überschatte das Neue, denn die Mutter weile nicht mehr unter uns.

 

Der Doktor seufzt:

 

„Wer hätte das gedacht. Eine Schwangerschaft anstatt einer Krankheit. Zu blöd, hab er's zu spät erkannt.„

 

Lächelnd schaut er auf das neue Gesicht. Es sieht wie ein Einzelwesen aus. Blinzelnd strahlt es ihm entgegen.

 

Die Massenindividualität beginnt sich zu räkeln.

 

(2014)  

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